Patienten geben manchmal missverständliche oder unklare Informationen, verschweigen oder beschönigen Tatsachen, um bestimmte Konsequenzen zu vermeiden – zum Beispiel eine nötige Ernährungsumstellung, ohne die eine erfolgreiche Behandlung nicht möglich wäre. Solch ein Verhalten kann bewusst oder auch unbewusst stattfinden. Für den Heilungserfolg ist es wichtig, hinter mögliche „Patienten-Fassaden“ zu blicken und produktiv damit umzugehen. Wir geben Ihnen wichtige Tipps, wie Ihnen dies gelingt.
Wichtiger als jede Interpretation einzelner Verhaltensweisen, wenn Sie Ihre Patient:innen wirklich richtig einschätzen möchten, ist Ihr eigenes Handeln. Nehmen Sie sich Zeit, lernen Sie den Menschen vor sich kennen, sprechen Sie miteinander. Stellen Sie offene Fragen, die man nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten kann, und lassen Sie Ihr Gegenüber ausreden. Nutzen Sie die Technik des Aktiven Zuhörens, durch die Sie wertvollere Informationen erhalten werden.
TIPP:
Notieren Sie sich in der Patientenakte wichtige Aussagen und Eigenheiten Ihrer Patien:innen, z.B. Gewohnheiten, Sorgen, Bedürfnisse, Abneigungen, Schamgefühle oder wo schon einmal etwas verschwiegen wurde … So können Sie über die Zeit hinweg Abweichungen vom üblichen Verhalten besser erkennen. Solche Abweichungen lassen meist darauf schließen, dass hinter der Fassade noch Botschaften entdeckt werden wollen.
„Man kann nicht nicht kommunizieren“: Dieses berühmte Axiom des Kommunikationswissenschaftlers und Psychotherapeuten Paul Watzlawick sagt aus, dass wir Menschen ständig Signale aussenden, die von anderen empfangen werden – auch, wenn wir nicht sprechen. Diese unbewusste Form der Kommunikation lässt sich nutzen, um Patient:innen besser zu verstehen, eventuellen verborgenen Beweggründen auf die Spur zu kommen und damit die Behandlungserfolge zu verbessern. Hier die vier Grundregeln:
Seien Sie aufmerksam: Konzentrieren Sie sich vollständig auf die Person, die vor Ihnen sitzt. Lassen Sie sich nicht dadurch ablenken, dass andere Patienten schon warten oder dass abends noch viel Verwaltungsarbeit ansteht. Sehen Sie hin, stellen Sie Augenkontakt her (jedoch ohne zu starren). Fokussieren Sie Ihre Gedanken ganz auf Ihr Gegenüber.
Beobachten Sie „mehrdimensional“: Achten Sie insbesondere auf die Mimik Ihres Gegenübers, aber gleichzeitig auf Gestik, Körperhaltung, Erscheinungsbild, Bewegungen und das Verhalten im Raum. In der Regel lassen sich typische Verhaltensweisen instinktiv richtig interpretieren, wenn man sich wirklich ganz auf den Menschen vor sich konzentriert und sich auf ihn einlässt.
Beispiel: Wenn jemand zuerst spricht und erst im zweiten Schritt die Körpersprache dazu einsetzt, ist dies ein möglicher Hinweis darauf, dass das Gesagte nicht echt ist. Denn normalerweise setzt bei einer instinktiven, spontanen Reaktion zuerst die Körpersprache ein und erst dann folgt die verbale Antwort. Detaillierte Tipps zum Lesen von Körpersprache finden Sie hier.
Achten Sie auf Schlüsselworte: Nonverbale Signale geben sehr viele Hinweise, aber darüber sollten die verbalen Äußerungen nicht vernachlässigt werden. Achten Sie auf Worte wie „eigentlich“, „vielleicht“ u.Ä. und haken Sie nach. Übertriebene Beteuerungen, Wiederholungen Ihrer Frage oder mehrfaches Formulieren der gleichen Antwort können ein Zeichen sein, dass gerade nicht ganz die Wahrheit gesagt wird.
Beispiel: „Wie meinen Sie das, ob ich mich genau an den Einnahmeplan gehalten habe? Natürlich habe ich das, auf jeden Fall. Ich habe alles ganz genau nach Ihrem Plan gemacht.“
Erkennen Sie Abweichungen vom Üblichen: Wichtige Momente allgemein – also nicht nur „Fassaden“ – werden oft dadurch angezeigt, dass es zu Abweichungen vom üblichen Verhalten komm. Solche Abweichungen erkennen Sie am besten, wenn Sie bereits ein Grundgefühl für Ihren Patienten oder Ihre Patientin entwickelt haben.
Beispiele: Die Stimme wird lauter oder leiser, die Sprache schneller oder langsamer, Gestik oder Mimik verändern sich plötzlich, ein Zögern ist zu bemerken.
Wenn Sie bemerken, dass ein:e Patient:in sich hinter einer Fassade versteckt, versuchen Sie herauszufinden, warum das so ist. Damit dies gelingt, müssen Sie Ihrem Gegenüber die Sicherheit geben, dass Sie ihn oder sie mit allen Eigenheiten und Schwächen annehmen. Gehen Sie mit gutem Beispiel voran und zeigen Sie durch Ihr eigenes Verhalten, dass es erlaubt ist, Gefühle und Gedanken auszudrücken – auch solche, die von den Mitmenschen oftmals als unangenehm, unangemessen oder „falsch“ eingeordnet werden. Geben Sie Ihren Patienten ausreichend Zeit, sich solcher Empfindungen überhaupt erst bewusst zu werden. Fragen Sie nach und sprechen Sie darüber.
TIPP:
Entscheidend ist, dass der Ausdruck von Gefühlen oder Gedanken „von hinter der Fassade“ keinerlei negative Konsequenzen haben darf. Wenn irgend möglich, sollte das Gegenteil der Fall sein, so dass Ihr:e Patient:in positive Folgen des Blickes aufs Verborgene erfährt.
Nach und nach wird es Ihnen mit diesen Tipps immer besser gelingen, hinter eventuelle Fassaden Ihrer Patienten zu schauen. Zur Perfektionierung trägt auch gute Fachliteratur bei – aber Achtung, grade zum Thema „Menschen durchschauen“ gibt es viele unfundierte Titel. Ein solider Einstieg ist z.B. das Buch „Menschenkenntnis“ von Martina Gessner, das 2022 in der 4. Auflage im Haufe-Verlag erschienen ist.